Lars Koepsel befasst sich in seiner Arbeit mit der akribischen und sensiblen handschriftlichen Transkription von Texten, abhängig vom thematischen Inhalt dieser, auf Papier, Landkarten, Globen und anderen Objekten. Hierbei entstehen komplexe bildnerische Formen, die sich sowohl auf die Inhalte der Texte selbst, als auch auf die umfassenden gesellschaftspolitischen Thematiken beziehen, die sich aus ihrer Interpretation und Reflexion ergeben haben.
In diesem Sinne - und in Anbetracht des enormen Zeitaufwandes, der erforderlich ist, diese Texte in mühevoller Einzelarbeit neu zu erfassen - wird man unwillkürlich veranlasst, Vergleiche mit der Transkription der Schriften anzustellen, die zu der Zeit Konstantins I. und dem Mailänder Edikt von 313 auftauchten und bis zur Erfindung des modernen Buchdruckes durch Johannes Gutenberg mit großer Sorgfalt ausgeführt wurden. Ihre Hochzeit erlebten Sie in Form der phänomenalen Stundenbücher (Andachtsbücher), die in Europa um 1250 auftauchten und in denen neben den gewissenhaft kopierten Texten, Psalmen oder Gebeten auch aufwendige Buchmalereien auf Velum (liturgische Kleidung) oder Papier ausgeführt wurden. Im besonderen werden diese Assoziation zwischen Koepsel und der vor Gutenbergschen Transkription von Texten zweifellos durch eines seiner jüngsten Werke induziert, das für die aktuelle Ausstellung in der Deutschen Gesellschaft für Christliche Kunst entstanden ist. In einem 18 Monate dauernden Prozess ist die dreiteilige Commedia nach Dante entstanden. Formal inspiriert von gotischen Kirchenrosetten ist sie aufgeteilt in Inferno, Purgatorio und Paradiso.
Dieser Aufsatz möchte sich jedoch nicht nur auf den Aspekt des vorindustriellen Charakters des Kopierens von Texten konzentrieren, stattdessen möchte ich in diesem Essay eine weitere wichtige Perspektive in Zusammenhang mit Lars Koepsels Arbeit beleuchten. Bezugnehmend auf die inzwischen fast drei Jahrzehnte währende Auseinandersetzung Koepsels mit der Kunstgeschichte und Künstlern in Ostasien soll hier erörtert werden, wie sich seine Werke innerhalb der zeitgenössischen Debatten positionieren . Dies, sowohl den performativen/gestalterischen Akt des Kunst Schaffens, als auch die Geschichte der modernen kalligrafischen Abstraktionsformen betreffend, wie sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Teilen der Welt entstanden sind.
Ein wichtiger Aspekt in Koepsels Arbeit, in dem er sich von den oben genannten Übertragungen der Stundenbücher deutlich unterscheidet, ist natürlich in der Les- respektive Unlesbarkeit der geschriebenen Texte zu sehen. Das heißt, dass auch unabhängig von der Opulenz und Anzahl der Malereien, die in diesen mittelalterlichen Manuskripten enthalten waren, ihre Grundidee und Hauptzweck darin bestand, die Psalter lesbar zu machen, und so einem breiteren Publikum, ja auch einer weltlichen Öffentlichkeit die Möglichkeit eröffnen wollte, im privaten Raum religiöse Andacht zu halten, die vorher nur dem mönchischen Leben vorbehalten waren. So war die Lesbarkeit der Bücher durch Ihre prächtige Ornamentik und Illustration (vielleicht mit Ausnahme der Anfangsinitialen) niemals beeinflusst. Um die Durchdringung der Schriften noch zu verbessern, wurden viele Bücher auch in einer Kombination aus Latein und einer europäischen Volkssprache verfasst. Da ihr Hauptzweck darin bestand, gelesen und
rezitiert zu werden, waren das Verständnis und die Verständlichkeit der Texte von größter Bedeutung.
Im Vergleich dazu spielt der Text in Koepsels gesamtem handschriftlichen Werk viel deutlicher eine symbolische und/oder gestische Rolle. Die Auswahl, nach der er die zu schreibenden Stücke trifft, ist zuerst von inhaltlichem Interesse und basiert auf einem sich daraus grundsätzlich bereits bestehenden Verständnis ihrer Bedeutung gegenüber den Formen, Motiven , Objekten, in oder auf die sie geschrieben werden. Hierbei führt die eigentliche Transkription, durch die ständigen Überschreibungen notwendigerweise zu seiner vollständigen Aufhebung auf der Ebene des Textverstehens. Aus diesem Sichtwinkel muss Koepsels Akt der Neueinschreibung der Texte auch auf der Ebene der Gestik betrachtet werden; der physische Akt des wiederholten Bewegens des Stiftes über die Oberfläche des Werkes, wobei der sprachliche Signifikant (Bezeichner) notwendigerweise von seinem dialektischen Signifikat (Bezeichnetes) gelöst (und aufgehoben) wird.
Hier- und in Anbetracht der langjährigen Erfahrung des Künstlers mit den Künsten und der Kultur Ostasiens - zeigt sich eine Verbindung zwischen seiner Vorgehensweise und Strömungen in der chinesischen Kalligrafie, deren repetitive gestische Bewegungen in ähnlicher Weise die etymologische Klarheit zugunsten des Ausdrucks des "reinen Lebens, welches durch Energie in Bewegung erfahren wird, die als Spuren [...] mit der Zeit und dem Rhythmus im Raum verschmelzen", auflösen.1 Wenn man sich auf den rein gestischen Charakter des Werks konzentriert - und die begrenzte Bandbreite der Bewegungen berücksichtigt, die bei der Schaffung einer größeren Form präzise wiederholt werden müssen - könnte man auch Parallelen zwischen der Praxis Koepsels und der strengen Ausbildung der Ningyō jōruri Puppenspieler in Japan ziehen, in der ein Spieler bis zu zehn Jahre lang erst die genauen Bewegungen der Füße, der linken und rechten Hand, der Köpfe der Nebenfiguren erlernt, bevor er diese Fähigkeit dann auf die Bewegungen des Kopfes einer Hauptpuppe überträgt.2
Was diese beiden verschiedenartigen Praktiken, die eine chinesisch, die andere japanisch, verbindet, ist die konkrete Akzentuierung auf die Details der gestischen Anwendung selbst, zusammen mit der Wiederholung einer Geste über einen längeren Zeitraum hinweg, anstatt sich um die scheinbare Lesbarkeit der Handlung an und für sich zu kümmern.
Diese Konzentration auf die „Energie in Bewegung“, die durch dieses gestische Arbeiten erzeugt wird führt, obwohl in Verbindung mit der inhaltlichen Übertragung, zu einem Akt der Aufhebung auf der Bedeutungsebene, ganz im Gegensatz zu einem Akt der Erklärung. Letzteres würde, in einem zeitgemäßeren Sinne, den Vorgang ständig wiederholten Schreibens von bestimmten Wörtern auf einer Fläche eher mit einer beliebten Strafe in der Schule in Verbindung bringen, wie man sie aus John Baldessaris Werk I Will Not Make Any More Boring Art („Ich werde keine langweilige Kunst mehr machen“, 1971) kennt.
In diesem Zusammenhang ähneln die frühen Arbeiten von Bruce Nauman eher der Koepsel'schen Form der Iteration als Aufhebung. In einem Artikel, der Naumans wiederkehrende Vorgehensweise und die von Samuel Beckett eingesetzten literarischen Mittel verbindet, macht Geraldine Sfez beispielsweise folgende Beobachtungen: „Dies könnte eine Lektion sein, die von Samuel Beckett gelernt wurde; zum Thema der
Wiederholung in Becketts Stücken bemerkt Deleuze, dass die Wiederholung von Gesten zu einer Form der Automatisierung und Bedeutungslosigkeit führt [...], da sich unsere Beziehung zur Zeit auflöst, wird so etwas wie eine Aussetzung der Zeit, eine blockierte Erinnerung, ein vergebliches Warten impliziert“.3 Wie Sfez weiter ausführt, blockieren der sich wiederholende Akt von Nauman und das wiederholte Wort/der wiederholte Satz von Beckett in Wirklichkeit die lineare Entwicklung der Dinge in der Zeit, indem sie eine Schleife von Ereignissen schaffen, die nicht zu einer Abfolge von etwas anderem führt; was zu seiner völligen Bedeutungslosigkeit führt. Auch die in Koepsels Werken verdoppelten und überschriebenen Wörter und Buchstaben erzeugen, ihrer gewohnten Bedeutung beraubt, etwas von der sprachlichen Klarheit Unabhängiges; sie befreien den kalligraphischen Duktus, um neue Bedeutungen und neue Wahrnehmungsweisen der Wirklichkeit zu bilden.
Ein weiterer wichtiger Vorläufer innerhalb dieser Form der kalligraphisch geprägten Zeichenkunst ist die Arbeit von Mark Tobey. Tobey befreundete sich mit dem chinesischen Einwanderer Teng Baiye, während beide Anfang der 1920er Jahre an der University of Washington in Seattle Kunst studierten. Inspiriert von der Schreibkunst, die ihm Teng gezeigt hatte, reiste Tobey später nach China und Japan, wo er einige Zeit in einem Zen-Kloster verbrachte und sich mit Sumi-Tinte (eine Art der festen Tusche) und Kalligraphie beschäftigte. Tobey würde später bekanntlich Ostasien als den Ort beschreiben, an dem er seinen „kalligraphischen Anstoß“ erhielt, und auch seinen Wunsch, „die frenetischen Rhythmen der modernen Stadt, die Verflechtung der Lichter und die Ströme von Menschen, die sich in den Maschen dieses Netzes verfangen, zu malen“.4 Dieses Interesse von modernen und zeitgenössischen euro-amerikanischen Künstlern an ostasiatischer Kalligrafie ist nicht singulär. Für westliche Künstler wie Isamu Noguchi und André Masson stellte die Kalligraphie ein völlig berechtigtes modernes Mittel zur Erweiterung eines abstrakten Ausdrucksstils dar, unabhängig von der sprachlichen Bedeutung. Obwohl viele Kritiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit diese Verbindung östlicher und westlicher visueller Ausdrucksformen als ein „bloßes“ Mittel zum Heilen der Wunden abgetan hatten, die durch die Atombombenabwürfe der Vereinigten Staaten auf Nagasaki und Hiroshima entstanden sind, war und blieb die abstrakte kalligraphische Linie für Tobey ein Mittel, um sich mehr von einer universellen Menschlichkeit zu eigen zu machen.
Erweitert man den Focus, ist dieses Interesse am abstrakten Potenzial der Kalligraphie kaum auf die Dualität von West und Ost beschränkt: Wie Iftikhar Dadi gezeigt hat, haben moderne Künstler aus ganz Nordafrika, dem Nahen Osten und Südasien zu einer Bewegung beigetragen, die Aspekte der arabischen Kalligraphie in moderne Kunst verwandelt hat. Sie haben es ermöglicht, dass bisher traditionelle Formen aus den akademischen Zwängen ausbrechen konnten und dadurch innerhalb modernistischer Paradigmen wiederbelebt wurden.5 Dazu gehören so unterschiedliche Künstler wie die Iraner Charles Hossein Zenderoudi, Parviz Tanavoli und Siah Armajani, der irakische Künstler Shakir Hassan Al Sa'id, Hanif Ramay, Sadequain Naqqash und Anwar Jalal Shemza aus Pakistan sowie die Künstler aus dem Sudan (Ibrahim El Salahi und Ahmed Shibrain), Ägypten (Ramsès Younan) und nicht zuletzt der Türkei (Erol Akyavaş). Dadi zeigte, wie diese unterschiedlichen Ansätze der kalligraphischen Abstraktion es den Künstlern ermöglichten, sich wieder mit den abstrakten und expressiven Möglichkeiten
der arabischen Schrift auseinanderzusetzen, und sie so mit Gestaltungs- und Abstraktionsmitteln zu versehen, die sich einer einfachen wörtlichen oder erzählerischen Bedeutung widersetzten.6 Obwohl sie sehr unterschiedliche persönliche Geschichten und Ansätze für das Kunstschaffen haben, ist das, was all diese ungleichen Praktiken miteinander verbindet, die Art und Weise, in der jeder Künstler mit den abstrakten Eigenschaften des kalligraphischen Ausdrucks experimentieren konnte: Sie nutzten sie, in Anlehnung an die hier in der Deutschen Gesellschaft für christlichen Kunst ausgestellten werke von Lars Koepsel , um ein fantastisches Reich abstrakter Räume und gestischer Mehrdeutigkeiten zu konstruieren und die westliche gestische Abstraktion mit den älteren kalligraphischen Traditionen und Darstellungspraktiken zu verschmelzen.
Wenn man dies in Betracht zieht, kann man Parallelen ziehen zwischen den mitreißenden Abschriften von Koepsels Göttlicher Komödie und Siah Armajanis großflächigem Einsatz der Werke von Sufi-Schreibern und Dichtern des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, auf seinen Frühwerken. Beide Prozesse machen die geschriebenen Texte fast gänzlich unleserlich, selbst für diejenigen, die ihre Sprache lesen können. Das Herzstück der Werke beider Künstler ist eine komplexe Form der Frömmigkeit: Während dies teils in den Werktiteln angedeutet ist, wird der religiöse Akt tatsächlich in der Ausführung der Werke selbst verkörpert. Dieser spiegelt die wiederholten, meditativen und sogar asketischen Praktiken der Hingabe wider. Obwohl der kalligraphische Charakter immer noch das Hauptmerkmal all dieser Werke ist, stellt ihre lockere, skizzenhafte Ausführung auf Papier oder auch radikal veränderten Hintergründen, die Hingabe an die visuelle Wirkung über die strenge Lesbarkeit.
In allen Werken Koepsels entfaltet sich die Schrift in mehrere Richtungen gleichzeitig - entweder folgt sie der abstrakten Form nationaler Grenzen (die Globen) oder grenzt den Umfang formal abgestimmt ab -, was den Betrachter bewusst verunsichert und den Blick in alle Richtungen gleichzeitig lenkt. Dies wiederum führt zu einer eher emotionalen als rationalen bzw. von allem gelösten Betrachtungsweise der Arbeit, da der Blick des Rezipienten während der Auseinandersetzung mit dem Werk ständig gleitet und doch versucht zu verweilen.
Besonders deutlich ist dies ebenfalls in der Verteilung des Textes auf den dreidimensionalen Flächen der beschrifteten Globen wahrnehmbar: denn obwohl die strenge sprachliche Qualität des Wortes selbst vom leserlichen ins unleserliche übergeht, führen die oben genannten formalen Grenzen doch dazu jeder Krümmung oder Bewegung in der Fläche zu folgen.
Da Koepsels Werk formal nicht nur auf Wort und Textualität aufbaut, sondern im Gegenteil Poesie selbst ist, könnte man versucht sein, sie als antimodernistisch zu bezeichnen. Indem er jedoch Literarisches in einer abstrakten zeichnerischen und malerischen Weise einbezieht, widersetzen sich seine Arbeiten den etablierten Normen der modernistischen Abstraktion, nämlich frei zu sein von inhaltlicher Erzählung .
Eine solche Annahme würde außerdem die Tatsache außer acht lassen , dass das gesamte Werk tatsächlich eine ideale modernistische Form darstellt, da es der formalen kalligrafischen Tradition trotzt und in , wie beiläufig hingeworfener Handschrift, Texte wiedergibt. Das Werk stellt so das Literarische wieder her, vermindert das Dekorative und hebt das Spirituelle hervor und wird dadurch höchst provokativ.