BÜCHER ABSCHREIBEN
von Heinz Schütz
Handschrift und Reproduktion
Selbstverständlich erscheint es heute, dass Bücher maschinell reproduziert werden und die Handschrift aus ihnen verschwand. Selbst das Manuskript ist seit dem Gebrauch von Schreibmaschinen ein zwar immer noch in Handarbeit erstellter, das heißt ein getippter, aber keineswegs mehr handgeschriebener Text.
Inzwischen zeichnet sich durch den Einsatz von Computern die nächste Stufe einer Entwicklung ab, die den Text und die Textproduktion zunehmend vom Körper entfernen. Computergeschriebene Texte werden elektronisch gespeichert und können im Internet oder auf CD veröffentlicht werden, ohne sich jemals als Druckerschwärze auf Papier zu materialisieren.
Qua Schreibprogramm beginnt sich der immer auch körperliche Vorgang des Schreibens radikal zu verändern. Das Schreiben mit klassischen Schreibgeräten, sei es Kugelschreiber oder Schreibmaschine, erfordert in einem Akt der Konzentration Denk- und Handbewegung zu synchronisieren und die Geschwindigkeit der Gedanken und die Trägheit der Hand in Einklang zu bringen. In den neuen Schreibprogrammen genügt es, die Anfangsbuchstaben eines Wortes einzugeben, damit der Computer das Wort automatisch zu Ende schreibt. Der Autor verwandelt sich hier vom Wort- zum Initialenschreiber. Die Schreibhandlung, in der das Wort Buchstabe für Buchstabe nachvollzogen wird, ist nur noch rudimentär. Die körperliche Übersetzung des gedachten Wortes bleibt auf halbem Weg stehen. Die Schreiblöcher werden durch die Computeraktivtät gefüllt.
Ein Blick auf die historische Entwicklung zeigt die fundamentale Bedeutungs- und Funktionswandel der Handschrift:
Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde es möglich handgeschriebene Manuskripte in maschinell reproduzierbare Druckvorlagen zu übersetzen. Im computergeschriebenen Text ist die Reproduzierbarkeit bereits im Manuskript angelegt. Vor Erfindung des Buchdruckes wurden handgeschriebene Bücher wiederum durch handschrifliche Kopien vervielfältigt. Sie wandten sich an eine „repräsentative Öffentlichkeit“ und waren aufs engste verbunden mit den Klöstern als Ort der Gelehrsamkeit und Verwaltung des kanonisierten Wissens. Nach der Erfindung des Buchdruckes wird die Handschrift zunehmend Ausdruck des Privaten insbesondere im persönlichen Brief, wobei sich bis heute immer wieder Bedeutungsverschiebungen anbahnen. So brachte etwa der Faxverkehr eine kurze Renaissance der Handschrift, wohingegen nun das Handschriftliche des Briefes respektive der privaten Mtitteilung unter dem Ansturm der Beschleunigung mehr und mehr durch den computergestützten SMS-Verkehr ersetzt wird.
Bücher werden Bilder
Wenn Lars Koepsel in seinen jüngeren Arbeiten Bücher eigenhändig und vollständig abschreibt, erinnert dieses Unterfangen durchaus an die Kopistentätigkeit der Mönche in vorgutenbergscher Zeit. Wie die Mönche wählt er aus dem Fundus der Bücher jene aus, die von einem über den historischen Moment hinausweisenden Interesse sind. Das bedeutet bei Koepsel: Philosophische Texte von Platon über Michel de Montaigne bis zu Ludwig Wittgenstein. Im Gegensatz zur mönchischen Kopistentätigkeit zielt seine Arbeit jedoch nicht auf die Bewahrung und Verbreitung der abgeschriebenen Bücher. Angesichts der Möglichkeiten der neueren Reproduktionstechniken wäre die handschriftliche Kopie ein für diesen Zweck äußerst unproduktives Unterfangen. Am Ende von Koepsels Schreibtätigkeit steht kein handgeschriebenes Buch, sondern ein singuläres Bild – ein Textbild, dessen Text unlesbar geworden ist. Wenn der Vergleich mit der mönchischen Praxis überhaupt weitergetrieben werden kann, dann darin, dass Koepsels mitunter Monate in Anspruch nehmende Abschreibtätigkeit Exerzitien ähnelt. Der regelmäßige Akt des Abschreibens kann als eine Übung betrachtet werden, die sich dem gegenwärtigen Geschwindigkeits- und Verwertungsdiktat entzieht und „Körper und Geist“ in einer gewissen Zeitentrückung konzentriert.
Koepsels Kopistentätigkeit stellt eine spezifische Form der Aneignung bestehender kultureller Äußerungen dar. – Darin nähert er sich dem postmodernen Diskurs, wie er sich in der Appropriationskunst herauskristallisiert hat. – In seiner handschriftlichen Aneignung der philosophischen Texte ist der Bezug zum eigenen Körper von Bedeutung. – Bekanntermaßen werden Texte intensiver aufgenommen, wenn sie abgeschrieben werden. Das Schreiben mit der Hand schreibt den Text offensichtlich auch ins Gedächtnis ein. – Doch nicht nur der Vorgang des Schreibens bringt hier den Körper ins Spiel, sondern auch der abgeschriebene Text, der als Resultat permanenter Überschreibungen unlesbar wird und dessen Bedeutung hinter seiner Physis verschwindet, entpuppt sich zuletzt als Textkörper. Ein vergleichbares Text-Körper-Verständnis ist bereits für die konkrete Poesie konstitutiv.
Die Textaneignung Koepsels vollzieht sich in verschiedenen Schreibschichten und mündet in eine Art Exerzitium der Leere. Entscheidend dabei ist: Koepsel schreibt die Schichten nicht einfach linear übereinander, sondern für jede neue Schicht dreht er das Blatt um neunzig Grad, so dass ein unlesbares Textgeflecht entsteht. Im Akt des Schreibens bleibt der Text anfangs lesbar, je mehr Textschichten hinzukommen – es gibt bis zu zwölf – nähert sich der Schreibvorgang dem Absurden, wird der Schreibgrund doch immer schwärzer und die Buchstaben immer unlesbarer: Der Schreiber schreibt, aber er sieht nicht mehr was er schreibt. Der Text wird durch die Schreibhandlung zwar körperlich vollzogen, aber im körperlichen Vollzug entzieht er sich, je dichter die Überlagerungen werden, der optischen Kontrolle. Der handschriftliche Schreibvorgang erweist sich zunehmend als Selbstzweck.
Die Hand schreibt einen Text, dessen Bedeutung sich im Schreiben verflüchtigt und trotz körperlicher Vergegenwärtigung imaginiert werden muss.
Durch das Übereinanderschreiben verschiedener Textebenen wird das abgeschriebene Buch zu einem Gebilde aus Ablagerungen, es wird zu seinem eigenen Palimpsest. Gleichzeitig vollzieht sich durch die Schichtung und Drehung der Übergang vom Text zum Bild.
Folgt man Vilém Flusser ist die Schrift durch Linearität gekennzeichnet, das Bild, zumal wenn man es von seiner elektronischen Ausformung her denkt, eine All-over-Pixel-Wellen-Struktur. Bei Koepsel erfolgt der Übergang vom Text zum Bild im Sinne dieses Übergangs vom Linearen zum flächig Addierten. Die überlagerten Textteile formen einen komprimierten Text, ein gestricktes feinmaschiges Netz, ein Textgewebe, welches die gesamte Fläche überzieht. Das lineare Hintereinander verwandelt sich in ein verwobenes Übereinander. Dadurch, dass Koepsel die Unregelmäßigkeiten, die bei der Überlagerung der Schreibfiguren entstehen, bewusst hervorhebt, wird der Text zum Ornament und zum Baustein für abstrakte Konfigurationen, die sich in die Tradition suprematistischer und konkreter Kunst einfügen. Koepsels Aneignung der philosophischen Texte mündet in ein Pattern, das den Sinn des Textes absorbiert hat, in eine Art Mandala der Leere, in dem Zeit und Bedeutung im Textkörper aufgehoben sind.